In letzter Zeit werden vermehrt Stimmen laut, dass es in Deutschland zu viele Netzbetreiber gibt. Vor allem die kleineren seien den gestiegenen Anforderungen nicht mehr gewachsen. Auf dem BDEW-Strategieforum Mittelstand am 10. September 2024 sagte beispielsweise Michael Kellner, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, in Anwesenheit von rund 140 Vertretern kleiner und mittlerer Netzbetreiber, dass die Zahl der Verteilnetzbetreiber „leider“ zu hoch sei. Ähnlich argumentieren Maria Marquart, Benedikt Müller-Arnold und Stefan Schultz in dem Artikel „Antrag ohne Anschluss“, der im SPIEGEL Nr. 32 vom 3. August 2024 erschienen ist. Viele der dort getroffenen Aussagen können aus Sicht der kleinen und mittleren Netzbetreiber (KMU) nicht nachvollzogen werden.
Deshalb hat die Initiative evu+ im edna Bundesverband Energiemarkt & Kommunikation e.V. im Folgenden Argumente und Fakten zusammengestellt, die die gelebte Realität und die Bedeutung der aktuellen Struktur im deutschen Netzbetrieb beleuchten. Das PDF finden Sie hier zum Download.
These 1: Die Vielzahl der Netzbetreiber ist ein „Systemfehler“
Mit der Liberalisierung der Stromversorgung 1998 war diese Struktur durchaus gewollt, auch von Teilen der Politik auf der EU- und Bundesebene. Man sah darin eine Stärkung des Als-ob-Wettbewerbs im natürlichen Monopol der Netze, der es den Regulierungsbehörden ermöglicht, die Effizienz der zahlreichen Netzbetreiber in vertikaler und horizontaler Hinsicht besser zu vergleichen. Dahinter stand auch die Erkenntnis, dass die Energiewende nur mit den Akteuren vor Ort funktioniert. Aber auch die regionale Wertschöpfung und die Schaffung lokaler Arbeitsplätze wurden in der Vergangenheit immer als Pluspunkt der Struktur in Deutschland gesehen. Auch das Thema „Demokratisierung der Energiewirtschaft“ wurde forciert, um dem damaligen Oligopol der Netzbetreiber etwas entgegenzusetzen. Die „Kleinteiligkeit“ ist auch kein Nachteil, wenn alle Unternehmen ihre Aufgaben erfüllen, was sie mehrheitlich auch tun und auch in Zukunft tun können, sofern ein wettbewerbsfördernder und kein wettbewerbsbehindernder Ordnungsrahmen gewährleistet ist (wie die weiteren folgenden Thesen zeigen).
These 2: Das Netz ist über Jahrzehnte gewachsen, weil das Geschäft so lukrativ ist
Der SPIEGEL behauptet, die „garantierte Verzinsung“ des eingesetzten Kapitals sei stattlich, die Renditen oft zweistellig. Das ist nicht korrekt: Für einen kleinen Sockelbetrag von vierzig Prozent des eingesetzten Kapitals gibt es eine Verzinsung, die derzeit für Neuanlagen bei 5,01 % liegt. Für Altanlagen liegt sie bei 3,51%. Selbst wenn ein Unternehmen über mehr Eigenkapital verfügt, erhält es für den Rest nur 1,71%. Die effektive Verzinsung eines Netzes liegt daher oft nur bei zwei bis drei Prozent, aber auch das ist nicht garantiert. Denn wenn die Kosten die Erlösobergrenze übersteigen, schreibt der Netzbetreiber rote Zahlen.
These 3: Das Geschäft ist nur lasch reguliert, Verstöße werden oft nicht geahndet
Die Vorgaben der Regulierung gelten für alle, auch für kleine Netzbetreiber. Das gilt auch für die Möglichkeit, den Anschluss von PV-Anlagen vollständig digital abzuwickeln.
Es ist richtig, dass einige Netzbetreiber diese Möglichkeit zum Stichtag 1. Januar 2024 nicht angeboten haben. Aber nicht, um „ihre Rendite zu optimieren, statt sich an staatliche Vorgaben zu halten“, sondern weil die Umsetzungsfristen schlicht zu kurz waren und deshalb einige Softwareanbieter nicht in der Lage waren, die Lösungen rechtzeitig zu implementieren. Ein Problem, das nicht nur diese Portallösungen betrifft. Der edna Bundesverband Energiemarkt & Kommunikation kritisiert ebenso wie andere große Fachverbände seit Jahren, dass die Vorgaben der Bundesnetzagentur und die damit verbundenen Fristen zu kurz und damit oft nicht haltbar sind. Dies gilt im Übrigen für kleine wie große Netzbetreiber. Die überwiegende Mehrheit aller Netzbetreiber bietet derzeit die Möglichkeit der digitalen Anmeldung von PV-Anlagen an, die Aussage „die meisten Netzbetreiber bieten diesen Service nicht an“ ist falsch und durch nichts belegt.
These 4: Der Netzausbau kommt trotz hoher Renditen nicht in Gang
Das liegt nicht am fehlenden Eigenkapital, sondern an der Kreditpolitik der Banken. Denn das Netz als solches kann in der Regel nicht beliehen werden, weil die Banken sagen, dass sie mit dem Netz nichts anfangen können, wenn der Kreditnehmer ausfällt. Als viele EVU letztes Jahr Bürgschaften zur Marktabsicherung ihrer Stromeinkäufe beibringen mussten, wurde von keiner angesprochenen Bank das Netz als Sicherheit akzeptiert. Auf Nachfragen beim genossenschaftlichem Prüfungsverband (prüft alle bayrischen Volks- und Raiffeisenbanken) kam die Auskunft, dass die VR-Banken die Netze nicht als Sicherheit anerkennen.
Bundesweite Nachfragen bei kommunalen Netzbetreibern (Mitglieder der GEODE) führten zum gleichen Ergebnis. Beleihbar sind daher nur die mit dem Netz verbundenen Immobilien, was natürlich nicht für die notwendigen Investitionen ausreicht. Die im Markt kolportierte Aussage, dies sei eine Vorgabe der Bafin, ist ebenfalls nicht korrekt. Es handelt sich um eine interne Vorgabe eines Kreditinstituts, die andere stillschweigend übernommen haben. Eine Alternative sind mancherorts kommunale Bürgschaften, die angesichts der Finanzlage der Kommunen immer seltener werden.
These 5: Digitale Netzsteuerung funktioniert nicht, weil kleine Netzbetreiber zu wenig in Hard- und Software sowie in qualifiziertes Personal investieren
Tatsache ist, dass sich der Rollout der dafür notwendigen Infrastruktur auf Basis intelligenter Messsysteme (iMsys) seit Jahren verzögert. Ein Grund dafür sind die komplexen Anforderungen an die IT-Sicherheit und Datenschutz, die es so nur in Deutschland gibt. Neben den Smart Meter Gateways werden für das Steuern & Dimmen nach §14a EnWG sogenannte Steuerboxen benötigt. Das erste dieser Geräte wurde erst Mitte September 2024 zertifiziert. Zudem wird aktuell die Rollenverteilung zur Schaltung der Steuerboxen durch eine aktuelle Diskussion wieder unklar, dass selbst mit dem Einbau einer Steuerbox die Schalthandlung als solche nicht klar geregelt erfolgen kann. Es liegt also keineswegs an den Netzbetreibern, dass die digitale Steuerung nicht funktioniert, denn der Rollout wurde erst durch die Verabschiedung des Gesetzes zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende im Jahr 2022 angestoßen. Seitdem steigt die Zahl der ausgerollten iMsys, wenn auch noch nicht im erforderlichen Umfang. Dies gilt für alle EVU gleichermaßen, aus unterschiedlichen Gründen wie der Verfügbarkeit der Geräte, dem Entwicklungsstand der notwendigen (neu entwickelten) Softwarelösungen oder den Kapazitäten der Dienstleister für die Gateway-Administration. Letztere Aufgabe wird in der Regel auch von großen Netzbetreibern ausgelagert, da die Anforderungen an die IT-Sicherheit immens sind. Das finnische und das dänische Stromsystem sind zwar vergleichbar. Allerdings haben skandinavische Netzbetreiber die Digitalisierung ihrer Netze viel früher begonnen und dabei deutlich weniger komplexe technische Vorgaben zu erfüllen gehabt. Und mit etwa 55 Verteilnetzbetreibern in Dänemark und 75 in Finnland verfügen beide Länder in Relation zur Einwohnerzahl über mindestens so viele Netzbetreiber wie Deutschland.
These 6: Es gibt zu viele IT-Systeme, die teilweise manuell „mit Daten aus PDF-Dokumenten und Faxen“ gefüttert werden.
Auch diese Aussage ist nicht korrekt: Die digitalen Prozesse der Marktkommunikation sind seit Jahren von der Bundesnetzagentur definiert und in den Systemen implementiert. Dass die Aktualisierungsfristen in der Regel zu kurz sind, wurde bereits oben erwähnt. Ebenso wurde beschrieben, dass die neuen IKT-Systeme zur Steuerung von Wärmepumpen, Speichern etc. erst jetzt zur Verfügung stehen. Klassische Kommunikationssysteme wie z.B. die Funkrundsteuerung funktionieren dagegen seit Jahren ohne manuelle Eingriffe. Größere Anlagen werden ohnehin auf der Mittelspannungsebene gesteuert und geregelt, wo die entsprechende Netzleittechnik vorhanden ist. Auf der Niederspannungsebene sind die dafür notwendigen Prozesse teilweise noch nicht geregelt. Dies hat nichts mit der Größe des Netzbetreibers zu tun.
These 7: Einspeisepunkte werden knapp, weil Netze falsch geplant wurden
Netze wurden mit einem Zeithorizont von 40 Jahren und mehr geplant. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass die bestehenden Netze den heutigen Anforderungen teilweise den heutigen Anforderungen entsprechen, da sie für eine zentrale Energieversorgung konzipiert wurden. Dennoch ist die Versorgungssicherheit in Deutschland eine der höchsten der Welt. Kleine Netzbetreiber liegen oft sogar über dem Durchschnitt. Der Grund: Es wurden ausreichend Reserven eingeplant.
Die Regulierung hat in den letzten Jahren durch das System der Erlösobergrenzen einen Sparzwang eingeführt. Es ging nicht darum, die Netze auszubauen und zu optimieren. Im Gegenteil: Wer innerhalb einer Regulierungsperiode investierte, wurde bestraft, weil er die Kosten erst in der nächsten Periode geltend machen konnte. Dies war regulatorisch vorgegeben und hat nichts mit der Größe des Netzbetreibers zu tun, ebenso wenig wie die Versorgungsprobleme bei „speziellen Trafostationen“. Erst seit wenigen Jahren können Investitionen zeitnah in die Erlösobergrenze mit hineingerechnet werden.
These 8: Kleine Netzbetreiber ignorieren Anfragen oder nehmen keine an
Diese Aussage im Spiegel ist falsch: Kleine Netzbetreiber sind nah am Kunden. Dieser weiß, wo das Unternehmen sitzt und kann den zuständigen Sachbearbeiter persönlich ansprechen. Kleine Netzbetreiber zeichnen sich durch direkten Kundenkontakt, hohe lokale Kompetenz und flexible Prozesse aus, die eine individuelle Bearbeitung ermöglichen. Sie haben auch einen guten Ruf zu verlieren: Unzufriedene Kunden können die kleineren Unternehmen schnell unter Druck setzen. Für diese Versorgungsunternehmen ist die „Kundennähe“ existenziell. Kleine Netzbetreiber setzen auf vielseitige Teams, in denen die Mitarbeiter ein breites Aufgabenspektrum abdecken, um Probleme flexibel und effizient lösen zu können. Dabei muss jeder Mitarbeiter in der Lage sein, über den Tellerrand zu schauen. Deshalb erfolgt z.B. die Bearbeitung von Anschlussanfragen für PV-Anlagen bei den KMU in der Regel in relativ kurzer Zeit.
These 9: Kleine Netzbetreiber müssen zur Kooperation gezwungen werden
Diese Aussage ist ebenfalls nicht korrekt, da gerade die kleinen Netzbetreiber seit Jahren in vielen Bereichen kooperieren, freiwillig, verantwortungs- und pflichtbewusst. So gibt es Servicegesellschaften, die z.B. die Marktkommunikation für mehrere EVU gleichzeitig abwickeln, es gibt Einkaufsgemeinschaften für die Material- oder Strombeschaffung. Mit anderen Worten: KMU denken und leben Kooperationen, wo immer es sinnvoll ist.
These 10: Der Gesetzgeber muss eingreifen, weil die Netzbetreiber ihre Probleme nicht in den Griff bekommen
Wie dargestellt, sind viele der Herausforderungen, vor denen kleine Netzbetreiber stehen, vom Gesetzgeber „gemacht“. Er muss deshalb nicht eingreifen. Vielmehr müssen seine Vorgaben so gestaltet werden, dass sie von allen Marktteilnehmern leichter umgesetzt werden können. Der Umbau der Netze und des Energiesystems scheitert jedenfalls nicht am Willen und der Motivation der kleinen Netzbetreiber. Im Gegenteil: Sie haben ein großes Interesse daran, dass die Energiewende vor Ort gelingt, denn das sichert ihre Existenz. Der Umbau des Energiesystems ist vielmehr eine Gemeinschaftsaufgabe aller Marktteilnehmer einschließlich des Gesetzgebers. Statt Schuldzuweisungen plädiert die Initiative evu+ dafür, die spezifischen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten der Politik, der Behörden und der Unternehmen auf Augenhöhe zusammenzuführen und die Regulierung unter Effizienzgesichtspunkten auf das unbedingt Notwendige zu beschränken.